Sind wir bessere Menschen, nur weil wir Zug fahren?

Die Älteren unter uns, die noch Walter Ulbricht, Täve Schur, Bärbel Wachholz, die Band Renft und Edith Piaf erlebt haben, werden sich auch an eine Werbekampagne der Deutschen Bundesbahn erinnern, die vor genau 50 Jahren, im Herbst 1966, gestartet wurde. Auf einem schwarzen Plakat war eine gelbe Elektrolok zu sehen, die durch eine Schneelandschaft pflügte.

Darüber die Worte: „Alle reden vom Wetter“ und darunter „Wir nicht.“ Es war ein Geniestreich, der zum geflügelten Wort und oft kopiert wurde.

Das ist, wie gesagt, 50 Jahre her, und seitdem hat sich vieles verändert. Die Züge sind komfortabler geworden, in den Bahnhöfen darf nicht mehr geraucht werden, und die Deutsche Bahn, wie das Unternehmen inzwischen heißt, garantiert, „dass die Strommenge für die zurückgelegten Fahrten aus 100 Prozent erneuerbaren Energien beschafft und ins Stromnetz eingespeist wird“.

Die Reisenden sind komplett „CO-frei unterwegs“, wie immer die Bahn das Wunder bewerkstelligen mag, dass sich kein Funken dreckigen Stroms in die Oberleitungen verirrt.

Wäre da nicht das Wetter

Allem Fortschritt zum Trotz: Es wird immer noch über das Wetter geredet. Im Sommer, wenn die Klimaanlagen in den Zügen ausfallen, und im Winter, wenn die Heizung nicht funktioniert. Hieß es früher in der DDR „Was sind die größten Feinde des Sozialismus? Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter!“, so gilt das Gleiche heute für die Bahn. Der Betrieb würde perfekt funktionieren, wenn nur das Wetter nicht wäre. Aber es gibt auch Ausnahmen.

So pünktlich ist der Fernverkehr der Deutschen Bahn

Quelle: Infografik Die Welt

Vor ein paar Tagen wollte ich von Hannover nach Berlin fahren. Es war ein ganz normaler Tag, kühl, leicht bewölkt, windfrei. Ideale Voraussetzungen für eine Reise mit der wetteranfälligen Bahn. Ich hatte drei Züge zur Auswahl: einen IC um 11.04 Uhr, einen weiteren IC um 11.21 Uhr und einen ICE um 11.31 Uhr. Toll, dachte ich, das ist ja wie eine Busfahrt von Wilmersdorf nach Charlottenburg. Allerdings: Beide ICs hatten eine „unbestimmte Verspätung“, beim ICE waren es 60 Minuten.

Ich fragte einen Bahn-Mitarbeiter im Reisezentrum nach dem Grund. Er sagte, es habe einen „Notarzteinsatz an der Strecke“ gegeben. Das ist die Chiffre für einen Selbstmord, keine feine Art sich das Leben zu nehmen. Nicht nur der Fahrplan gerät durcheinander, der Lokführer erleidet einen Schock, der ihn nie mehr loslässt.

180 Minuten Verspätung von Berlin nach Dresden

Wenn es so ist, dachte ich, kann die Bahn nichts dafür. Ich wartete, bis einer der Züge schließlich in Hannover auf das Gleis 9 rollte und sich dann nonstop auf den Weg nach Berlin machte.

Am Abend schaute ich bei meinen Nachbarn vorbei. Sie hatten Besuch von Freunden, die öfter zwischen Dresden und Berlin hin- und herfahren. Neulich, erzählten sie, wollten sie einen IC von Berlin nach Dresden nehmen, er sollte Berlin um 21 Uhr verlassen und um 23.01 Uhr in Dresden ankommen, eine sehr kommode Verbindung.

Am Berliner Hauptbahnhof erfuhren sie, der Zug habe 180 Minuten Verspätung. Wegen einer „technischen Störung“. Statt zu warten, stiegen sie in einen Zug, der nach Leipzig fuhr und schafften es auf Umwegen nach Dresden, wo sie lange nach Mitternacht eintrafen. Erschöpft, aber glücklich, dass sie „CO-frei“ befördert wurden.